Zur Problematik virtueller Realität
Das Wort „Virtuelle Realität“ ist problematisch. Es steht im Verdacht, ein bloßes „Zauberwort“ oder ein „Modewort“ zu sein, das dazu einlädt, die Unterscheidung zwischen Realität und Illusion, Fiktion und Simulation immer weiter zum Verschwinden zu bringen und sich in technische Nebenwelten zu flüchten. Dennoch begegnen wir dem Wort seit einiger Zeit immer häufiger. Spätestens seit der Corona-Epidemie sind wir daran interessiert, verschiedene Dinge, etwa Veranstaltungen, „virtuell“ anzubieten. Damit meinen wir, dass sie nicht physisch, vor Ort, stattfinden, sondern durch digitale Technik, etwa per Zoom, realisiert werden können, unabhängig von einem bestimmten Ort. Deswegen sprechen manche davon, dass virtuelle Realität bereits Teil unserer Lebenswelt ist und eine neue Normalität darstellt. Virtuelle Realität wird vor allem mit sogenannten „VR-Brillen“ in Verbindung gebracht, d.h. mit digitalen Geräten, die es uns erlauben, immersive Simulations-Erfahrungen zu machen, in künstliche Welten einzutauchen. Deswegen hat seit einiger Zeit auch die Philosophie das Thema „virtuelle Realität“ für sich entdeckt. Klassische Fragen der Philosophie, wie nach dem guten Handeln und Erkennen der Welt, können so mit Blick auf virtuelle Welten neu gestellt werden.
Virtuelle Realität im Film: Zwischen Dystopie und Utopie
Der vom Regisseur Steven Spielberg gedrehte Film „Ready Player One“ aus dem Jahr 2018 thematisiert die Problematik virtueller Realität. Der Film handelt von einer dystopischen Welt in der Zukunft, in der die Menschen nur noch in heruntergekommenen Behausungen viel zu großer Städte wohnen und sich mittels VR-Brillen in eine utopische Scheinwelt flüchten, in der sie unbekannte Freiheiten genießen können, indem sie in fremde Rollen – Avatare – schlüpfen. Ist virtuelle Realität dann am Ende nichts anderes als Realitätsflucht in eine Schein- oder Nebenwelt? Bezeichnend ist folgendes Zitat eines Protagonisten des Films: „These days, reality is a bummer. Everyone’s looking for a way to escape.“ Das Wort „bummer“ bedeutet so viel wie „Enttäuschung“ oder „Reinfall“. Virtuelle Realität hilft uns demnach, wie eine Droge, uns aus der enttäuschenden Welt in eine Scheinwelt zu flüchten. Aber löst dies wirklich unsere realen Probleme? Virtuelle Realität kann verschieden verstanden werden. Entweder, wie im Film „Ready Player One“, eröffnet sie eine Schein- oder Nebenwelt, d.h. die Welt wird verdoppelt. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, virtuelle Realität zu verstehen: Virtuelle Realität steht nicht in Konkurrenz mit unserer gewohnten Welt, sondern erweitert diese. Man spricht in diesem Kontext auch von „Mixed Reality“, also der Verbindung von physischen und virtuellen Elementen im selben Raum.
Virtuelle Realität in der Realität: Das Metaversum
Ein prominentes Beispiel virtueller Realität finden wir im Phänomen des „Metaversums“. Es handelt sich dabei um den Versuch des von Mark Zuckerberg gegründeten Unternehmens „Meta“ (ehemals „Facebook“), virtuelle Realität in unseren Alltag so zu integrieren, dass wir darin leben, arbeiten und spielen können. Die Idee eines solchen Metaversums wurde ursprünglich von dem US-amerikanischen Schriftsteller Neal Stephenson in seinem Buch „Snow Crash“ von 1992 entwickelt. Darin tragen Menschen VR-Brillen mit hoher visueller Auflösung und können so in eine perfekt realistische Welt eintauchen. Durch Avatare kommunizieren die Menschen im Metaversum. An diese Idee hat das Unternehmen Meta angeknüpft. Im Metaversum sieht Meta die große (kommerzielle) Zukunft der Arbeits- und Unterhaltungsindustrie. Das Metaversum sei, so wirbt Meta, „die nächste Evolutionsstufe der sozialen Vernetzung und der Nachfolger des heutigen mobilen Internets“. VR soll also, mit anderen Worten, das Smartphone nach und nach ersetzen. Allerdings geht Meta mit seinen großen finanziellen Investitionen in diese Technologie – über 25 Milliarden Dollar im Jahr 2022 – eine große Wette ein. Denn es ist nach wie vor unklar, ob im Jahr 2030 wirklich eine Milliarde Menschen das Metaversum nutzen und entsprechend Hardware und Software von Meta kaufen werden, wie es dessen Erwartungen sind.
Was ist bis jetzt mit virtueller Realität möglich?
Die Versprechen von Meta sind mit Vorsicht zu genießen. Tatsächlich sind die Möglichkeiten der neuesten VR-Brille, der „Oculus Quest 3“, die für ca. 500 Euro erworben werden kann, noch recht begrenzt. Während damit virtuelle Spiele sehr gut möglich sind – etwa eine virtuelle Golf-Simulation – und auch Filme in Kino-Qualität genossen werden können, so ist das Vernetzen mit anderen virtuellen Personen oder das gemeinsame Arbeiten in einem virtuellen Raum nur schwer möglich. Ein Grund dafür liegt darin, dass momentan VR-Brillen noch viel zu groß und unkomfortabel sind. Außerdem werden durch VR momentan andere Sinne als der Seh- und Hörsinn zu wenig berücksichtigt. Dies jedoch schränkt unsere Kommunikationsmöglichkeiten ein.
Vor- und Nachteile von VR
Vorteile von VR bestehen in der Möglichkeit von Partizipation und Barrierefreiheit. Denn VR vollzieht sich unabhängig von unseren räumlichen Beschränkungen – wir können uns von jedem Ort aus in die virtuelle Realität begeben. Dies spart Zeit und Geld. Auch ermöglicht uns VR, mit Simulation, Illusion und Fiktion zu experimentieren. Dies setzt freilich voraus, dass wir kritisch zwischen Realität und Illusion unterscheiden können, d.h. dass wir so etwas wie mediale Mündigkeit besitzen. Hier kommt die negative Seite ins Spiel: allzu leicht verwechseln wir im virtuellen Raum die bloße Simulation mit der Realität, etwa dann, wenn wir darin – real – zur Kasse gebeten werden, um unseren Avatar mit kostenpflichtigen virtuellen Accessoires zu schmücken – sei es mit virtuellen Hüten, Ohrringen oder Handtaschen von Gucci. Durch die zunehmende Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) wird es leichter sein, andere Menschen zu täuschen und zu betrügen: Steht hinter dem Avatar, mit dem ich gerade kommuniziere und interagiere, eine echte Person oder nur eine KI?
Ausblick
Das Metaversum, wie es von Meta entwickelt wird, ist in erster Linie ein virtueller Konsumraum, der darauf ausgerichtet ist, uns zu virtuellen Angeboten zu verleiten. Deswegen ist es noch ein weiter Weg zum Ideal einer virtuellen Welt, in der wir unsere Freiheit vergrößern und mit anderen Menschen interagieren können. Virtuelle Realität kann unsere physische Realität nicht ersetzen, aber sie kann sie so erweitern, dass räumliche Grenzen überwunden werden. Eine große Herausforderung wird darin bestehen, der junge Generation der „digital natives“ eine digitale Medienkompetenz zu vermitteln, die es erlaubt, zwischen Realität und bloßer Simulation, Fiktion und Illusion zu unterscheiden.